architekt dr.-ing. thorsten schuetze
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kunst Zur Geschichte des Klosters "Shide Dratsang"

Beschreibung der Baugeschichte und Nutzung des Gebäudekomplexes in Lhasa auf Grundlage eines Interviews mit einem 82 jährigen Bewohner:

Am 2.8.2000, morgens um 8 Uhr komme ich zusammen mit der Übersetzerin Namgyal Dolma nach tagelangen Versuchen endlich in die Wohnung des alten Mönchs, der noch schlafend im Bett liegt. Seine Cousine weckt ihn und er beantwortet uns, noch nackt im Bett liegend, die ersten Fragen. Um uns die verschiedenen Nutzungsbereiche des Klosters zeigen und beschreiben zu können, erklärt er sich bereit, sich anzukleiden und mit uns das Gelände zu begehen.

Herr Dutu Kushio La ist im Jahre 1918 geboren worden und mit der Geschichte des Klosters sehr gut vertraut, denn er hat dort schon als kleiner Junge mit den Mönchen gespielt. Von 1949 bis 1960 lebte er, mittlerweile selbst Mönch, zusammen mit 300 bis 400 anderen in dem Kloster. Nach seinen Angaben hat er auch in der Zeit danach ununterbrochen in der Anlage gewohnt.
Das Klostergebäude soll im Jahre 1960 zerstört worden sein. Es ist wahrscheinlich, dass sich die Beschädigungen zu dieser Zeit nur auf den Innenraum des Hauptgebäudes sowie auf ein nordwestlich gelegenes und heute nicht mehr existentes Wohngebäude bezogen haben, da die Gesamtanlage von ~1965 bis 1984 von den chinesischen Truppen besetzt und zum großen Teil als Kaserne genutzt worden ist. Hinweise hierfür finden sich an der Innenseite der nördlichen Klosterwand, die mit großformatigen chinesischen Schriftzügen bemalt ist. Die Bedeutung dieser Schriften lautet "Chinesen und Tibeter sind gleich" sowie "Chinesen und Tibeter haben die gleiche Mutter und sind wie Brüder und Schwestern". 1984 verließen die Truppen die Klosteranlage und schufen somit Raum für die heute dort lebenden Menschen.

Das Gelukpa-Kloster wurde zur Zeit des 7. Dalai Lamas (Kälsang Gyatsho, 1708-1757) gegründet. Die zweigeschossige Hofbebauung wurde ausschließlich für Wohnzwecke genutzt. Die Erdgeschoss- sowie die Obergeschossebene waren ursprünglich hofseitig als Laubengangerschließung und somit sonnen- und vor Regen geschützt ausgebildet. Die religiösen Tätigkeiten, wie beten und studieren wurden ausschließlich im eigentlichen Klostergebäude durchgeführt. Der heutige, an der Südseite der Klosteranlage gelegene Haupteingang diente ursprünglich auch zu diesem Zweck. Allerdings stand die Gesamtanlage wesentlich freier und weniger von umgebender Bebauung eingeschlossen wie heute. So befanden sich zwei Gebäude dem Haupteingang südlich vorgelagert, eins westlich und eins östlich, die große Gebetsmühlen behausten. An der Stelle des westlichen befindet sich heute eine halböffentliche Toilette.

An der Westseite verspringt der Wohnriegel zur hofabgewandten Seite. In diesem Versprung ist eine Gebäudefuge ablesbar, welche die Trennung zwischen dessen südlichen Teil, die ehemalige Klosterküche und dem nördlichen Teil, eine später angebaute Toilette, definiert. Der ehemalige, heute zugemauerte Außeneingang zur Küche, befand sich an der Südseite des Vorsprungs und diente zur Anlieferung der Nahrungsmittel sowie der Brennstoffe (Feuerholz und Kuh-, bzw. Yakdung), die in einem eigens dafür errichteten, freistehenden und zweistöckigen Gebäude gelagert wurden, welches sich östlich der Küche auf einem offenen Platz befunden haben soll. Das Dach des Küchenraumes wird von vier Säulen getragen und ragt über den umgebenden Dachbereich hinaus, um eine ausreichende Belichtung und Belüftung des Raumes zu gewährleisten. Die Nahrungsmittellager befanden sich um die Küchenräume herum. Nordwestlich des hofseitigen Küchenzuganges befindet sich der Brunnen, welcher die gesamte Klosteranlage mit Trinkwasser versorgt hat. Heute dient hierzu eine zentrale Wasserstelle in der Mitte des offenen Klosterhofes. Nördlich des Küchen- und Toilettenbereiches verspringt das Gebäude in der Vertikalen und wird dreigeschossig. Auch dieser Teil ist ausschließlich für Wohnzwecke genutzt worden.

Der nordöstlich gelegene Labrang stellte eine Einheit innerhalb der Klosteranlage dar. Er besaß Eingänge an der Süd-, Ost- und Westseite. Das Gebäude diente als Wohnraum für die persönlichen Bediensteten des obersten, leitenden Lama (von 1934 bis 1959 war dies Reting Rinpotsche), beinhaltete Lager für Nahrungsmittel und mindestens zwei Küchen für die Bediensteten und den Lama. Die Wohnbereiche sind geschossweise den Dienstgraden zugeordnet. So hat der Schatzmeister, der direkt dem Rinpotche untergeordnet war, im obersten, dem 3. Geschoss gewohnt.

Die Residenz des Rinpotche (Reting Lama) befand sich im ursprünglich 5-stöckigen Nordflügel, der nördlichen Begrenzung des Hauptklostergebäudes, hinter den Lakhang, in den Obergeschossen (3., 4. bzw. 5. Geschoss). Die Decke seines Wohnraumes wurde von 16 Säulen getragen. Daraus leitet sich auch der Name dieses Raumes "Zum Chin" (16 Säulen) ab. Am westlichen Ende, ebenfalls in den Obergeschossen des Riegels, befanden sich die Toiletten, während die Untergeschosse zur Lagerung verschiedener, nicht vergänglicher Güter dienten. Südlich dieses Bereiches, über dem Lakhang, befanden sich Räume zur Versammlung und zur Bewirtung von Gästen. Hier wird auf die Paläste im Norbu-Lingka verwiesen, die in den oberen Geschossen eine ähnliche Raumstruktur aufweisen.

Das Hauptheiligtums "Ji-Ji-Lakhang", dessen Decke ebenso wie die der angrenzenden Lakhang durch jeweils 4 Säulen getragen wurde, beherbergt drei Buddhas, die nicht näher definiert werden können
Im westlichen Lakhang befand sich der nach Süden ausgerichtete "Jawa-Champa-Buddha", der Buddha der Zukunft, während sich im östlichen (Gandhe-) Lakhang der auch nach Süden ausgerichtete "Ji-Abissem-Buddha" befand. Beide Lakhang dienten außer zur Beherbergung der Buddhas als Bibliothek im weitesten Sinne, d.h. zur angemessenen Lagerung heiliger Bücher. Die Regale befanden sich an der Ost- bzw. an der Westwand.

Der Dokhang, das die Versammlungshalle beherbergende Hauptgebäude, war dreigeschossig ausgebildet. Die Decke des Dokhang wurde von 48 Säulen getragen. Im Geschoss darüber befand sich ein großer, nicht mit Wänden unterteilter Raum. Der Dokhang selbst hatte drei Zugänge von außen. Im Süden befand sich der, durch ein großes Portal definierte Haupteingang. Im südlichen Teil der Ostwand gab es einen, durch ein kleineres Portal gekennzeichneten Eingang, der hauptsächlich die direkte Verbindung zum Labrang und zum Küchenbereich darstellte. Im nördlichen Bereich der Westwand gab es eine unauffällige Tür, die in einen schmalen Hofbereich führte und die Verbindung zu einem ehemals dort angrenzenden, dreistöckigen Wohngebäude, herstellte. Dort wohnten Mönche, die für die Schlüsselgewalt und die Pflege der Heiligtümer und der Versammlungshalle (Messdiener) zuständig waren.

Thorsten Schütze, Lhasa, 2.8.2000



Anmerkung zum Interview vom 8.2.2000:

Bei einem Interview im Rahmen der Wohnungsbegehung am 6.8.2000 hat sich herausgestellt, dass die chinesischen Truppen höchstwahrscheinlich schon 1976 aus dem Klosterbereich abgerückt sind und somit Platz für die gegenwärtige Wohnnutzung geschaffen haben. Vor dem Abzug wurden die Dächer des Hauptgebäudes (Dokhang + Lakhang) wahrscheinlich zerstört und alle Zugänge verschlossen. Die befragte Bewohnerin berichtet, dass sie aus Angst vor Strafe über viele Jahre nicht versucht hat in das Klostergebäude zu gehen. Erst als der einfache Zugang durch Einstürze von Gebäudeteilen ermöglicht wurde wäre sie, wie viele andere Bewohner der Anlage in das Gebäude gegangen.

"Shide" ist die tibetische Bezeichnung für "Frieden". Angeblich ist das Kloster ehemals für den Erhalt des Weltfriedens gebaut worden.

In der Zeit zwischen dem Tod des 13. Dalai Lama (Tubten Gyatsho) im Jahre 1933 und der Inthronisierung des 14. Dalai Lama (Tendzin Gyatsho) am 22.4.1940, im Alter von 4 Jahren, wurden die Regierungsgeschäfte traditionellerweise von einem Regenten geregelt. Dies war Reting Rinpotsche, der ab 1934 im Shide Dratsang residierte. Da er es versäumt hatte, gute diplomatische Beziehungen zu China aufrecht zu erhalten, bzw. zu schaffen, scheint es wahrscheinlich, das dies einer der Hauptgründe für die nachhaltige Schließung und Entweihung des besagten Klosters nach dem Einmarsch der Chinesen in Lhasa ist.

Thorsten Schütze, Lahasa 6.8.2000
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Vorschlag zur umgehenden Sicherung der Klosterruine des "Shide Dratsang":

Von dem Haupgebäude mit der Versammlungshalle stehen nur noch die Wände. Die Geschossdecken sind, abgesehen von dem nördlichen Gebäudeteil, komplett eingestürzt. Die Stabilität der Aussenwände ist insbesondere im südwestlichen Gebäudeteil nicht mehr gewährleistet, da hier die Ecke eingestürzt ist und somit kein aussteifender Verbund zwischen den einzelnen Wandscheiben mehr gegeben ist. Durch die fehlenden Dächer werden die Lehmmörtelschichten in den Wänden ausgewaschen. Die Durchfeuchtung führt in den kalten Jahreszeiten zu Frostschäden und zur Sprengung des Mauerwerks. Die noch stehende Gebäudesubstanz ist extrem einsturzgefährdet und muss umgehend (möglichst vor dem Winter 2000/2001) gesichert werden. In erster Linie ist dies erforderlich, um Schäden durch einstürzende Teile von den umliegenden Behausungen und ihren Bewohnern abzuwenden, zum Anderen ist dies die letzte Chance, einen gestalterischen Eindruck des ursprünglichen Gebäudes zu wahren.

Thorsten Schütze, Lhasa, 7.8.2000